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Autofreier Sonntag 1973 (1)

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Epilog

Das letzte Wort

In Freiheit tun, was die Verantwortung fordert

An dieser Stelle geben wir im Wortlaut die nachdenkliche Ansprache wieder, mit der sich der damalige Bundespräsident Ernst Brugger am 16. Juni 1974 (also kurz nach dem Ölpreisschock und dem jähen Ende der nachkriegszeitlichen Hochkonjunktur) im Rahmen der 75-Jahr-Feier der HGC in Luzern an die Mitglieder der Generalversammlung des SBV und der HGC gewandt hat.

Eindrückliche wirtschaftliche Entwicklung ...

Es ist heute relativ einfach, geeignete Themen für eine Ansprache vor einem Wirtschaftsverband zu finden. Die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes in der Nachkriegszeit ist eindrücklich. Das Bruttosozialprodukt hat sich in den letzten 25 Jahren verdreifacht, der Export verfünffacht, und das durchschnittliche reale Einkommen konnte um gut das Doppelte gesteigert werden. Auch das Ausmass unserer Bauinvestitionen ist gewaltig; so konnte beispielsweise der Wohnungsbestand innerhalb einer Generation verdoppelt werden.

Diese Entwicklung haben wir den Errungenschaften der Technik und der damit verbundenen ständigen Verbesserung und Ausweitung der wirtschaftlichen Produktionsfaktoren zu verdanken. Sie ist aber auch der Markt- und Wettbewerbswirtschaft und der ihr innewohnenden Dynamik zuzuschreiben, der persönlichen Initiative der Unternehmens- und Betriebsleiter, der Forscher und Techniker, der Tüchtigkeit unserer Bauern, Arbeiter und Angestellten. Dazu beigetragen haben aber auch der Arbeitsfriede unter den Sozialpartnern, die stabilen politischen Verhältnisse und unsere freiheitliche Gesellschaftsform, die unseren individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Erfordernissen einen breiten Spielraum gewährt. Schliesslich ist auch unsere Weltoffenheit in wirtschaftspolitischer Beziehung zu erwähnen, ohne die eine derart ausgeprägte Ausweitung unserer Exportindustrie und unseres internationalen Dienstleistungsangebots (Fremdenverkehr, Banken, Versicherungen) nicht denkbar gewesen wäre.

... am Wendepunkt?

Stehen wir heute an einem Wendepunkt? Das vergangene Jahr und die letzten Monate haben uns ungewohnte Belastungen gebracht, die uns in direkter Weise mit der Frage des wirtschaftlichen Wachstums, den Grenzen des Wohlstands, der Rezession und den konkreten Gegebenheiten des Verzichts konfrontieren. Die Umstellung fällt uns nicht leicht. Die vergangenen 25 Jahre haben bei uns den gefährlichen Glauben aufkommen lassen, uns könne auf wirtschaftlichem Gebiet überhaupt nichts passieren. Wir haben keine Rezession, geschweige denn eine Krise erlebt, obwohl die Weltwirtschaft manche Schwächeperiode zeigte. Seit 25 Jahren kennen wir im Gegensatz zu den meisten andern Industrieländern keine Arbeitslosigkeit und haben uns daran gewöhnt, die gelegentlichen Schwierigkeiten in einigen Regionen oder Betrieben geradezu als «unschweizerisch» anzusehen. Selbst heute noch, wo untrügliche Gewitterzeichen aufziehen, glauben wir, die wirtschaftliche Schönwetterlage werde sich von selbst wieder einstellen. So scharf unser Blick für politische Realitäten sein mag, für die fundamentalen wirtschaftlichen Realitäten, die die Entwicklungschancen unseres Landes bestimmen, sind wir nicht besonders weitsichtig. Vor allem hat die Einsicht gelitten, dass nur das, was an Produktion und Leistung hervorgebracht wird, zur Befriedigung materieller Bedürfnisse zur Verfügung steht - nicht mehr und nicht weniger. Wir sollten auch zur Einsicht kommen, dass wir nicht einfach von der Hand in den Mund leben können und dass wir mit blossen Symptomkorrekturen nicht mehr durchkommen. Um es auf einen einfachen Nenner zu bringen: Wir kommen nicht darum herum, den Schritt vom sogenannten «politisch Möglichen» zum wirtschaftspolitisch Notwendigen zu tun.

Illusionäres Denken

Wie kurzfristig wir denken, zeigt unsere Einstellung zur Energieversorgung. Noch ist seit dem Einbruch der Energiekrise kein halbes Jahr vergangen und schon mehren sich die Stimmen, welche mit Blick auf die zurzeit befriedigende Versorgungslage und die gefüllten Lager bestenfalls noch von einem Preisproblem sprechen. Ans Sparen und an weitere wirtschaftliche Folgen denkt man kaum mehr; und selbst wenn man vom Preis spricht, erkennen nur wenige die grosse Belastung, die daraus entsteht, dass wir jährlich 2,5 Milliarden Franken mehr zu bezahlen haben, wenn wir das letztjährige Quantum einkaufen wollen. Dies entspricht etwa dem, was uns die ganze Fremdenindustrie per Saldo einträgt. Aber auch das Mengenproblem ist keineswegs gelöst. Die auf diesem Globus vorhandenen Energierohstoffe sind beschränkt und vermehren sich nicht von selber. Würde der Energiekonsum im gleichen Rhythmus wachsen, wie das in den letzten Jahren der Fall war, würde das eine Verdoppelung innert 10 bis 12 Jahren bedeuten, was vollständig ausgeschlossen ist. Zudem haben die erdölproduzierenden Länder bis heute keineswegs darauf verzichtet, das Erdöl als politische Waffe einzusetzen. Die internationale Lage ist durchaus nicht so, dass neue Erschütterungen ausgeschlossen wären, und es entspricht illusionärem Denken, wenn man unsere Abhängigkeit bereits wieder verniedlicht. Wir haben es im Energie-, aber auch im gesamten Rohstoffsektor mit einem längerfristigen Struktur- und Versorgungsproblem zu tun, das kurzfristig überhaupt nicht gelöst werden kann.

«Bedenken Sie, dass selbst wenn das Schweizervolk der 3. Überfremdungsinitiative nicht folgen wird, der Bevölkerungszuwachs in den nächsten 30 Jahren wahrscheinlich nicht einmal den im Jahrzehnt 1960 bis 1970 verzeichneten erreichen wird.»

Weltwirtschaft vor gewaltige Herausforderung gestellt

Es ist realistisch, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass die Weltwirtschaft durch die neue Situation auf dem Rohstoff- und Erdölmarkt, die zudem noch durch eine weltweite Inflation gekennzeichnet ist, vor Herausforderungen gestellt wird, wie wir sie in der ganzen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt haben. Die Erkenntnis, dass es sich hier um echte Notstände handelt, bricht sich immer mehr Bahn. Immer mehr Nationen – und es sind nicht nur die rohstoffarmen Entwicklungsländer – geraten in wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil ihre Rohstoffimporte nicht mehr gesichert sind und ihre Zahlungsbilanzen aus den Fugen geraten.

In dieser Notlage trifft man einseitige, protektionistische Massnahmen, die zum freien Welthandel passen wie die Faust aufs Auge und die sehr oft mindestens dem Geiste nach – eine Verletzung internationaler Abmachungen bedeuten. Solche nationalen Massnahmen bringen in der Regel auch keine Lösung der Probleme, da sie Gegenmassnahmen provozieren und letzten Endes unser in 25 Jahren sorgfältig aufgebautes freies Weltwirtschaftssystem in Frage stellen müssten. Der Rückfall in den Wirtschaftsprotektionismus der Zwischenkriegsjahre ist wohl das Schlimmste, was unserer auf Arbeitsteilung eingerichteten Weltwirtschaft überhaupt passieren könnte.

«Stability begins at home»

Uns Schweizer muss diese Entwicklung mit grösster Sorge erfüllen. Eine schweizerische Wirtschaft, die sich auf den Binnenmarkt beschränken müsste, ist undenkbar. Es geht nicht nur um das gute Drittel, das wir im Ausland verdienen. Die Verflechtung unserer Binnenwirtschaft mit der Exportwirtschaft ist derart eng, dass man an das Bild der siamesischen Zwillinge erinnert wird, die voneinander abhängig sind, wenn sie leben wollen. Auch unsere Binnenwirtschaft braucht freie internationale Wirtschaftsbeziehungen, wenn sie gedeihen soll. Unsere Hauptaufgabe an der Aussenfront besteht darin, für liberale Bedingungen in den Weltwirtschaftsbeziehungen einzutreten und das bis heute Erreichte zu konsolidieren und gegen einseitige protektionistische Massnahmen, die vor allem die kleinen Länder schwer treffen müssten, anzutreten. Wer allerdings im internationalen Konzert Gewicht haben will, hat den Beweis anzutreten, dass er in seinem eigenen Hause Ordnung hat. Man wird ja selber nicht gesund, wenn man sich damit tröstet, dass es andernorts noch schlechter stehe. Der ehemalige deutsche Wirtschaftsminister, Professor Schiller, hat kürzlich an einem Vortrag in Zürich gesagt: «Auch bei einer Weltepidemie werden ja die örtlichen Krankenhäuser nicht geschlossen.» Früher sagte man: «Charity begins at home». Und heute müssen wir immer wieder sagen: «Stability begins at home»

Ungebremste Inflation bedeutet Niedergang des freien Unternehmertums

Das heisst mit anderen Worten, dass wir auch in der Schweiz mehr und mehr gezwungen werden, eine aktive Konjunkturpolitik zu betreiben. lch weiss, dass viele unter Ihnen diese Feststellung nicht besonders gern hören. Aber ich möchte annehmen, dass unsere Differenzen vielleicht doch nicht so gross sind, wie dies aufgrund der Ausmarchung in Detailfragen manchmal scheinen mag. Letztlich geht es nämlich uns allen, das heisst sowohl Ihnen wie den wirtschaftspolitisch verantwortlichen Behörden, um das gleiche: um die Erhaltung und den Fortbestand unserer freiheitlichen, wettbewerbsorientierten Wirtschaftsordnung, der wir immerhin sehr viel zu verdanken haben und deren Niedergang uns in einen Zustand des Mangels und der Armut hineinführen müsste. Es kann auch keine Zweifel geben, dass eine ungebremste Inflation und der Niedergang unserer Wettbewerbsfähigkeit dem freien Unternehmertum keineswegs zuträglich wären und dass ein durch die Verhältnisse forcierter beschleunigter Strukturwandel unsere Klein- und Mittelbetriebe vor schwere Probleme stellen würde.

Bauwirtschaft vor düsterem Horizont

Dass sich in letzter Zeit der bauwirtschaftliche Horizont verdüstert hat, brauche ich nicht besonders hervorzuheben. Das ist ja auch der Grund, weshalb in Ihren Kreisen die Forderung nach Aufhebung oder doch wesentlicher Lockerung der geltenden Dämpfungsmassnahmen, hauptsächlich des Bau- und Kreditbeschlusses, erhoben wird. In diesem Zusammenhang wird gesagt, die konjunkturelle Lage habe sich längst beruhigt und drohe teilweise bereits in eine Rezession umzuschlagen. Vereinzelt wird auch etwa argumentiert, die Massnahmen seien ja ohnehin wirkungslos gewesen.

1974 Close Up BPR Ernst Brugger

Ernst Brugger aus Gossau/ZH war von 1969 bis 1978 Vorsteher des Bundesamtes für Volkswirtschaft (heute Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung) und 1974, im Jubiläumsjahr der HGC, amtierender Bundespräsident.

Ich möchte mich nun kurz zur Lage und den Aussichten auf dem Baumarkt äussern und Ihnen die sich aus unserer Sicht aufdrängenden konjunkturpolitischen Schlussfolgerungen darlegen. Es ist tatsächlich so, dass sich nach einer Periode des Verharrens auf sehr hohem Niveau in jüngster Zeit die Anzeichen einer fühlbaren Abschwächung der Nachfrage und der Beschäftigung Im Baugewerbe mehren. Die Planungsstufe ist zum Teil bereits unterbeschäftigt. Bei den Betrieben des engeren Baugewerbes dürfte der Arbeitsvorrat bis Mitte des Jahres im Allgemeinen befriedigend sein, wobei jedoch deutliche regionale Unterschiede bestehen.

Zusehends wird auch das Ausbaugewerbe, das heute zwar noch stark beansprucht ist, die Beruhigung zu verspüren bekommen. Die Entwicklung der neu bewilligten Baukredite deutet sowohl Im Wohnungs- wie auch im industriell-gewerblichen Sektor auf einen Rückgang der Bautätigkeit hin. Die eingeräumten Baukredite nahmen 1973 gegenüber dem Vorjahr stark ab. Die rückläufige Entwicklung wird durch die Offertvolumen, die erteilten Wohnbaubewilligungen, die gewerblich-industriellen Planvorlagen und den Zementverbrauch bestätigt.

Für die einzelnen Baukategorien ist mit ungefähr folgender Entwicklung zu rechnen. Aufgrund der Angaben über die Wohnbaubewilligungen im zweiten Halbjahr 1973 dürfte der Wohnungsbau im laufenden Jahr real um etwa einen Sechstel bis einen Fünftel zurückgehen. Der öffentliche Bau, der bereits in der Vergangenheit stets ein Element gewesen ist, das die Baunachfrage gestützt hat, dürfte 1974 real noch leichtzunehmen oder sich zumindest im Vorjahresrahmen halten. Der besonders empfindliche gewerblich-industrielle Bau scheint einen realen Rückgang in der Grössenordnung von 10 bis 20 Prozent in Kauf nehmen zu müssen. Diese drei Komponenten, die einen Anteil von rund 95 Prozent der gesamten Baunachfrage verkörpern, lassen also einen realen Rückgang der Bautätigkeit 1974 von schätzungsweise 6 bis 10 Prozent erwarten. Die Rückbildung dürfte dabei im zweiten Halbjahr stärker ausfallen als im ersten. Genaueren Aufschluss über die zu erwartende kurzfristige Entwicklung wird jedoch erst die Jahreserhebung des Delegierten für Konjunkturfragen geben.

«Dank den Stabilisierungsmassnahmen gelang es, eine ausgleichende und aufschiebende Wirkung zu erzielen. So wird heute mancher Unternehmer froh sein, eine Baute realisieren zu können, die beispielsweise im Boomjahr 1972 verschoben worden ist.»

Ein Blick über die Grenzen

Ein Blick aufs Ausland zeigt, dass der Anteil der Bautätigkeit am Bruttosozialprodukt mit gut 20 Prozent in den letzten Jahren höher war als In allen anderen OECD-Staaten (15 Prozent). Die Begründung mit den besonderen klimatologischen und topographischen Verhältnissen unseres Landes, wie auch die Argumentation mit den überdurchschnittlichen Komfortansprüchen unserer Bevölkerung ist nur teilweise überzeugend. Der sich abzeichnende und von den Marktkräften ausgelöste Rückgang der Bautätigkeit zeigt, dass die Entwicklung in den vergangenen Jahren das Ausmass eines normalen, unseren begrenzten Ressourcen Rechnung tragenden Wirtschaftswachstums überstieg. Bei nüchterner Betrachtung muss anerkannt werden, dass es zum vornherein unmöglich erscheint, die überhöhte Bautätigkeit der letzten Jahre auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.

Bauwirtschaft muss sich auf veränderte Wachstumsbedingungen ausrichten

Wir sind heute vor allem mit einem langfristigen Wachstums- und Strukturproblem konfrontiert und nicht mit einer Folgeerscheinung der Konjunkturdämpfung. Zur jetzigen Wende am Baumarkt wäre es früher oder später auch ohne dringliche Bundesbeschlüsse gekommen. Es ist nicht möglich, über längere Zeit jährlich rund 80 000 Wohnungen zu produzieren bei einem Bedarf von etwas über 50 000 Einheiten. Selbst unter der Annahme, dass die Wohndichte weiterhin zurückgeht und der Bedarf an Ferien- und Zweitwohnungen noch zunimmt, gelangt man zum Schluss, dass der künftige Wohnraumbedarf nicht mehr annähernd den Produktionsstand der Jahre 1972/73 erreichen wird. Diese Diskrepanz lässt sich einfach nicht wegdiskutieren. Sie ist allein schon aus der demographischen Entwicklung heraus zu erklären. Bedenken Sie, dass selbst wenn das Schweizervolk der 3. Überfremdungsinitiative nicht folgen wird, der Bevölkerungszuwachs in den nächsten 30 Jahren wahrscheinlich nicht einmal den im Jahrzehnt 1960 bis 1970 verzeichneten erreichen wird. Nicht nur die Bauwirtschaft, sondern auch die übrige Wirtschaft wird sich auf diese fundamental veränderten Wachstumsbedingungen (die nichts mit Konjunktur und Konjunkturpolitik zu tun haben) ausrichten müssen.

Harmonisierung der öffentlichen Baunachfrage

Aber auch der Investitionsboom der letzten Jahre im industriell-gewerblichen Bereich konnte nicht endlos anhalten. Früher oder später musste die Erweiterung der industriellen Kapazitäten an die vom Arbeitsmarkt her gesetzten Grenzen stossen. Desgleichen ist die öffentliche Hand angesichts des sich zusehends verschärfenden finanziellen Engpasses auch als Bauherr gezwungen, den Gürtel enger zu schnallen. Nicht zuletzt werden die bereits erlassenen oder sich in Vorbereitung befindenden Vorschriften auf verschiedenen Gebieten, so etwa jenen der Raumplanung und des Umweltschutzes, künftig vermehrt die Bautätigkeit beeinflussen. Um indes von Seiten der öffentlichen Hand den Anpassungsprozess möglichst reibungslos ablaufen zu lassen, sehen wir in der neu auszuhandelnden Vereinbarung zwischen dem Bundesrat und den Kantonsregierungen eine Empfehlung vor, wonach eine Harmonisierung der öffentlichen Baunachfrage angestrebt werden soll.

Fahrt ins Wellental auch ohne Stabilisierungsmassnahmen

Angesichts dieser vom Markt ausgelösten Entwicklungen wäre es falsch und ungerecht, uns den Vorwurf zu machen, wir hätten mit den Konjunkturdämpfungsbeschlüssen die Wende am Baumarkt provoziert. Diese ist, wie ich vorhin angetönt habe, in erster Linie eine strukturelle Erscheinung. Es ist sogar anzunehmen, dass es ohne Konjunkturbeschlüsse zwar etwas später, aber zu einer umso rasanteren Fahrt ins Wellental gekommen wäre. Dank den Stabilisierungsmassnahmen gelang es, eine ausgleichende und aufschiebende Wirkung zu erzielen. So wird heute mancher Unternehmer froh sein, eine Baute realisieren zu können, die beispielsweise im Boomjahr 1972 verschoben worden ist.

Ebenso falsch wäre es, zu glauben, dass sich mit der Aufhebung der dringlichen Bundesbeschlüsse die Situation in der Bauwirtschaft grundsätzlich ändern würde. Es kann nämlich – abgesehen von einer nicht verantwortbaren konjunkturellen Aufblähung – nicht das Entstehen einer Baunachfrage erhofft werden, die gar nicht vorhanden ist, ja die angesichts des stark abnehmenden Bevölkerungswachstums und der zusehends eingeschränkten Expansionsmöglichkeiten unserer Wirtschaft gar nicht möglich ist.

Panikstimmung nicht angebracht

Wenn die Bauwirtschaft heute in den Sog des Strukturwandels geraten ist, so steht sie nicht etwa allein da. Dieser hat nämlich die meisten anderen Wirtschaftszweige und auch weite Bereiche des aussenwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens erfasst. Ich bin mir bewusst, und dies ist für mich alles andere als erfreulich, dass die Strukturänderung für die Betroffenen schmerzlich ist. Sie ist aber gewissermassen ein notwendiges Übel und muss aus gesamtwirtschaftlicher Sicht akzeptiert werden, wollen wir nicht eine Gefährdung unseres marktwirtschaftlichen Systems in Kauf nehmen. Das Bekenntnis zur Marktwirtschaft schliesst die Bereitschaft in sich, auch in Zeiten rückläufiger Geschäftstätigkeit den freien Wettbewerb und den damit verbundenen Zwang zu akzeptieren, sich den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Jeder Fortschritt muss nun einmal mit kurzfristigen Anpassungsopfern erkauft werden. Das ist in den letzten Jahrzehnten bei uns etwas in Vergessenheit geraten.

Trotz diesen vor allem auf kurze Sicht nicht sehr rosigen Zukunftsaussichten wäre es nicht angebracht, nun in eine Panikstimmung zu verfallen. Befürchtungen vor einer ernsthaften Krise sind schon deshalb nicht am Platz, weil sowohl im Privatwohnungsbau wie im gewerblichen Bau noch grosse Aufgaben zu bewältigen sind. Ferner wird der Bund im Rahmen des neuen Wohnbauförderungsgesetzes zusätzliche Impulse im Bereich des preisgünstigen Wohnungsbaus auslösen. Daneben besteht noch ein sehr grosser Bedarf der öffentlichen Hand nach Leistungen der Bauwirtschaft. So geht aus dem eben publizierten Mehrjahresprogramm des Bundes, der Kantone und der Gemeinden hervor, dass in den nächsten fünf Jahren öffentliche Bauvorhaben in der Grössenordnung von rund 66 Milliarden Franken realisiert oder in Angriff genommen werden sollen, was fast dem zweieinhalbfachen Wert des Bauvolumens von 1973 entspricht. Es ist die selbstverständliche Aufgabe aller Beteiligten, den Ablauf dieses Bauvolumens so zu steuern, dass, wenn immer möglich, gesamtwirtschaftliche Störungen und soziale Härten vermieden werden können. 

Schrittweiser Abbau der Restriktionen auf dem Baumarkt

Nicht zuletzt aus diesem Grund ist vom Beauftragten zur Stabilisierung des Baumarktes ein Plan zum schrittweisen Abbau der Restriktionen auf dem Baumarkt entwickelt worden, der weitgehend den Vorstellungen und Forderungen der Bauwirtschaft entspricht. Obwohl eine Verlängerung oder gar Verewigung des Baubeschlusses von vornherein ausser Betracht fällt, wäre seine vorzeitige Ausserkraftsetzung in den nächsten Monaten nicht sinnvoll.

Heute geht es vor allem darum, dafür zu sorgen, dass die beschränkte, für Bauzwecke verfügbare Kreditmenge den volkswirtschaftlich dringenden Baukategorien zugeleitet wird. Auch wenn die Prioritäten heute etwas anders zu setzen wären, ist doch die mit der Sperrliste anvisierte Abstimmung zwischen Bau- und Kreditbeschluss immer noch geboten. Daneben kommt auch den sozialpolitischen Zielen, wie die Erhaltung von älterem gutem Wohnraum und der Neubau preisgünstiger Wohnungen, weiterhin eine gewisse Bedeutung zu. Mit den vorgesehenen Lockerungen soll die Entwicklung schrittweise an die Lage bei Marktfreiheit herangeführt werden.

«Wenn die Bauwirtschaft heute in den Sog des Strukturwandels geraten ist, so steht sie nicht etwa allein da. Dieser hat nämlich die meisten anderen Wirtschaftszweige und auch weite Bereiche des aussenwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens erfasst.»

Konjunkturpolitische Interventionen wirkungslos?

Auf die Lenkungsfunktion des Baubeschlusses kann so lange nicht verzichtet werden als der Bund gezwungen ist, eine restriktive Geldpolitik zu betreiben. Die Kreditbeschränkung muss indes in einem weiteren Rahmen gesehen werden, der über die Bauwirtschaft hinausgeht. Es handelt sich um den Versuch, die Geldmenge, welche die Nachfrage alimentiert, also einen Hauptfaktor der Inflation, einigermassen unter Kontrolle zu bringen. Wir würden unsere Glaubwürdigkeit im Kampf gegen die Teuerung verlieren, wollten wir diese entscheidende Stellung räumen. Es geht dabei natürlich nicht darum, das Land durch eine unnötige und unverhältnismässige Einengung der Geldversorgung in eine Krise zu stürzen. Man wird aber beweglich sein müssen, und zwar sowohl in der Bestimmung des Kreditplafonds, der Mindestguthaben, des Emissionsvolumens wie in der Bemessung des Härtekontingents. Hier werden die Prioritäten hauptsächlich auf der Stützung des Tiefbaus und des öffentlichen Hochbaus, der Rationalisierung in Gewerbe und Industrie sowie auf der finanziellen Sicherstellung der Projektierung bis zur Ausführungsreife liegen.

Oft wird die Meinung vertreten, die bisherigen konjunkturpolitischen Interventionen hätten nicht genügt, ja sie seien wirkungslos verpufft. Gewiss waren die Anfangserfolge wenig sichtbar. Immerhin ist es uns in der Schweiz gelungen, die Geldmenge zu stabilisieren, und zwar auf eine Art und Weise, um die man uns in anderen Ländern beneidet. Dass auch der Preis wieder in vermehrtem Masse die ihm als Nachfragesteuerungsfaktor in der Marktwirtschaft zugedachte Rolle zu spielen beginnt, kann kaum bestritten werden. Und schliesslich liegen wir auch mit dem Lebenskostenindex wieder im Mittelfeld der Industriestaaten, nachdem wir eine Zeitlang in den vordersten Rängen anzutreffen waren.

Dass konjunkturpolitische Massnahmen zum mindesten kurzfristig auch kontraproduktive Effekte erzeugen können, soll nicht bestritten werden. Solch unerwünschte Nebenwirkungen können wohl nur dann ausgeschaltet werden, wenn der inflationäre Auftrieb rechtzeitig und mit global wirkenden Instrumenten gebremst werden kann. Der neue Konjunkturartikel soll uns die verfassungsmässige Basis geben, damit wir dies tatsächlich auch tun können. Mit dem bisherigen Notrecht leben wir ganz einfach von der Hand in den Mund und betreiben Feuerwehreinsätze, wenn das Haus bereits brennt. Wir warten zu, bis wirtschaftliche Schwierigkeiten auftreten oder bis die politische Reizschwelle erreicht ist, um dann mit relativ drakonischen und wenig differenzierten Massnahmen einzugreifen. Meistens ist es dann zu spät, um mit nur marktkonformen Mitteln auszukommen, und sektorielle Eingriffe erweisen sich als notwendig.

Verzicht auf staatliche Konjunkturpolitik ist aus politischen Gründen unmöglich

Wollen wir in gleicher Weise fortfahren? Könnte sich der Verzicht auf einen eigentlichen Konjunkturartikel, wie dies da und dort vorgeschlagen wird, nicht als Bumerang erweisen, weil unter dem Druck der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse später umso rigorosere Massnahmen in Kauf genommen werden müssten? Auf jeden Fall sind dem Baugewerbe auch unter dem Notrecht staatliche Eingriffe nicht erspart geblieben. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass ein moderner Ausbau unseres konjunkturpolitischen Instrumentariums im eigenen Interesse der Bauwirtschaft und unserer Wirtschaft überhaupt liegt. 

Dieser Auffassung können sich wohl diejenigen nicht anschliessen, die glauben, man könne auf staatliche Konjunkturpolitik überhaupt verzichten. Aber ist dies nicht eine Illusion? Eine weitere inflationäre Entwicklung wird uns derartige soziale Spannungen bringen, dass ein «Laisser-faire» schon aus politischen Gründen unmöglich sein wird. Aber auch wirtschaftlich würden derartige branchenmässige und regionale Schwierigkeiten entstehen, dass man schon sehr bald den Staat zu Hilfe rufen würde. Hinzu kommt, dass wir auch an unserer aussenwirtschaftlichen Front handlungsfähig bleiben müssen, wenn wir gewissen ausländischen Einflüssen nicht wehrlos ausgesetzt sein wollen. Selbstverständlich wird uns auch ein neuer Konjunkturartikel nicht aller Schwierigkeiten entheben. Selbst unter verbesserten rechtlichen und methodischen Voraussetzungen wird es beispielsweise auch in Zukunft nicht leicht sein, die Rolle des Staates im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft eindeutig zu definieren. Trotz aller Schwierigkeiten können wir aber vor dieser Aufgabe nicht kapitulieren, denn es entspricht den Erfordernissen der heutigen Zeit, dass der Staat einen Ordnungsrahmen für die grundsätzlich freie Entfaltung der Wirtschaft wie auch für ein gedeihliches Zusammenleben der gesellschaftlichen Gruppen setzt. Es wird immer zu den heikelsten Aufgaben der Politik gehören, die marktwirtschaftlichen Gesetze und die Gewerbefreiheit auf der einen Seite und die Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung und die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse auf der anderen Seite unter einen Hut zu bringen.

«Es ist nicht möglich, über längere Zeit jährlich rund 80'000 Wohnungen zu produzieren bei einem Bedarf von etwas über 50'000 Einheiten.»

Inflationsbekämpfung erfordert Opfer von allen Gruppen

Um all diese Zusammenhänge zu erkennen, braucht es sehr viel Einsicht und Vernunft, nicht nur bei den Regierenden und den Führern unserer Wirtschaft, sondern auch bei unserem Volk, denn ohne die Zustimmung der Volksmehrheit können diese Probleme gar nicht gelöst werden. Inflationsbekämpfung fordert Opfer von allen Gruppen, und dieses Ziel kann nicht über Ideologien und Polarisierungen, auch nicht durch kämpferische Rhetorik, sondern nur durch Information, Einsicht und Vertrauen erreicht werden. Von dieser Haltung sind wir noch weit entfernt. 25 Jahre Hochkonjunktur haben uns nicht einsichtiger gemacht, und der Wille zu solidarischem Handeln ist nicht gestärkt worden. Man fordert,

bekämpft, geht in die Opposition, schlägt Türen zu und glaubt sich in dieser Existenz bedroht, wenn im übergeordneten Interesse ein Verzicht verlangt wird. Man verketzert den Staat und ruft diesen Staat sofort um Hilfe, wenn die erste Bisluft weht. Wir haben in unserem Land eine Virtuosität der Interessensvertretung entwickelt, die an Durchschlagskraft eindrücklich ist, und wir setzen ein grosses Mass an Intelligenz und Energie ein, um die Forderungen der einzelnen Erwerbsgruppen zu begründen und durchzusetzen. Wer etwas fordert, weiss zudem ganz genau, was gerecht ist, und wer auf etwas verzichten sollte, sieht sich als Opfer schreiender Ungerechtigkeit.

Beitrag zur Erhaltung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung

Die bisherige wirtschaftliche Entwicklung nährte offensichtlich den Irrtum, man könne auf unbeschränkte Zeit hinaus über die eigenen Verhältnisse leben und brauche in keiner Weise die eigenen Ansprüche an Wirtschaft und Staat auf das Mass der realen Möglichkeiten der Volkswirtschaft zurückzuschrauben. Das wird schon deshalb nicht mehr gehen, weil nicht mehr wie bisher die nachteiligen Folgen der Inflation durch eine forcierte Wirtschaftsexpansion überdeckt werden können. Wollen wir einfach zuwarten, bis die Situation eine andere Haltung kategorisch erzwingt, oder sollten wir nicht in Freiheit und Voraussicht das tun, was der Mut der Verantwortung fordert? Unser Grundsatz der Ordnung in der Freiheit setzt die Fähigkeit voraus, dass wir die grösseren Zusammenhänge sehen und den Überblick wahren. Sollten uns diese Fähigkeiten verloren gehen, müssten wir uns nicht wundern, wenn die nächste Generation neuen Ideologien anheimfällt, und dies deswegen, weil sie den Sinn persönlicher Freiheit und individueller Rechte in der Bewährung nicht mehr kennt.

Ich hoffe, dass diese Überlegungen es vielen von Ihnen erleichtern wird, Verzicht und Einschränkungen nicht nur als Belastung zu sehen, sondern als notwendigen Beitrag zur Erhaltung der Lebenskraft unserer politischen und wirtschaftlichen Ordnung, der wir ja schliesslich ausserordentlich viel zu verdanken haben. «Werde Maurer – baue Deine Zukunft.» Der zweite Teil dieses einprägsamen Satzes gilt nicht nur für Ihre Lehrlinge, er gilt auch für die Lehrmeister, er gilt für uns alle.

Ernst Brugger, Bundespräsident und Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements, 1974 (Quelle: Archiv der HGC)