schliessen
Schieben für mehr details
13 125 JAHRE HGC SAMSTAG 12 (1)

Editorial

Das grosse Fest

117 125 JAHRE HGC SAMSTAG 108

Aktuell

Die Bilder vom Fest

Adobestock 694998721

Zeitreise

Der Blick zurück ...

Adobestock 604892596 Editorial Use Only

Baustoffe

Die Gebäudehülle

Adobestock 618597273 (1)

Jubiläumspartner

Dankeschön N° 1

Adobestock 595922327

Eventpartner

Dankeschön N° 2

Adobestock 251173192

Vorschau

Wie weiter?

Adobestock 127264919

Epilog

Das letzte Wort

Eine vermeidbare Tragödie?

Der Grenfell Tower in London ist ein 24-geschossiges Hochhaus im Stadtviertel North Kensington des Royal Borough of Kensington and Chelsea im Westen der Stadt, unweit der U-Bahn-Station Latimer Road. In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 2017 brannte das 1974 fertiggestellte und 2015/16 komplett modernisierte Sozialwohnungsobjekt weitgehend aus. Der Brand breitete sich innerhalb von wenigen Minuten über die neue wärmegedämmte, vorgehängte und hinterlüftete Fassade  aus. 72 Menschen kamen dabei ums Leben.

Grenfell Tower, London In 2009

Da war die Welt noch in Ordnung: der frisch renovierte Grenfell Tower.

Ausgangslage

In der Nachkriegszeit kam es wie in vielen Teilen Europas auch in den Ballungsgebieten Englands zu einem erhöhten Bedarf an günstigem Wohnraum. Zugleich gab es den Wunsch nach zeitgemässer Ausstattung und einem moderneren Umfeld. Die vielen noch vor den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts erbauten Wohnviertel aus der Zeit der Industrialisierung galten als rückständig und entwickelten sich aus diesem Grund nicht selten zu eigentlichen Slums. Besonders in den 1960er Jahren wollte sich die Politik an der Anzahl der pro Jahr errichteten neuen Wohneinheiten messen lassen. Überall auf den britischen Inseln entstanden bis in die 1970er Jahre neue moderne Wohngebiete, die zu 20 Prozent aus Hochhäuser bestanden.

Nicht wenige dieser modern gestalteten Wohnanlagen liessen handwerklich und ästhetisch, aber vor allem auch in sozialer Hinsicht zu wünschen übrig und gerieten bald als billig und problembehaftet in Verruf. Doch anstatt die Qualität zu steigern und die Anlagen damit für breite Schichten attraktiv zu machen, wurde verstärkt auf billige Sozialwohnungen gesetzt und als Kontrast dazu das Eigenheim in den Vorstädten zum Ideal erhoben.

Hinzu kam, dass 1968 das nur gerade zwei Monate vorher bezugsfertige, in Grosstafelbauweise errichtete Hochhaus «Ronand Point» im Ost-Londoner Stadtbezirk Newham bei einer Gasexplosion wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Vier der Bewohner starben. Der Ruf der modernen Wohnhochhäuser war vollends ruiniert, als eine Untersuchungskommission anschliessend die vielen Mängel aufdeckte, die zum Einsturz des Gebäudes geführt hatten.

Bau des Grenfell Tower

Der «Grenfell Tower» war im Rahmen eines grösseren Stadtteilsanierungsprojektes namens Lancaster Raod West als Teil der Grosssiedlung Lancaster West Estate entstanden. Das Hochhaus, das einzige seines Architekten Nigel Whitbread, wurde 1970 genehmigt. Ein Totalbauunternehmen wurde mit der Umsetzung beauftragt.

Nach den Lehren aus Ronan Point entwarfen die Projektverantwortlichen einen verbesserten Gebäudetypus aus Stahlbeton mit äusseren Betonstützen und einem Gebäudekern aus Ortbeton. Ab 1972 entstanden so in Phase 1 der geplanten Massnahmen 120 Zwei- und Dreizimmerwohnungen, bei jeweils 6 Einheiten pro Stockwerk. Der Bau wurde 1974 fertiggestellt.

Im Grenfell Tower lebten rund 600 Menschen. Er war Eigentum der Kommunalverwaltung des Kensington and Chelsea London Borough Council und wurde von der Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation (KCTMO) verwaltet. Die KCTMO ist ein gemeinnütziges Unternehmen mit einem mehrheitlich mit Mietervertretern besetzten Verwaltungsrat. Die KCTMO betreute zum Zeitpunkt des Brandes 9'459 Immobilienobjekte in ihrem Einzugsbereich.

Renovierung und Fassadensanierung

Im Jahr 2012 wurde mit Hilfe der Architekten von Studio E ein Sanierungsplan für das Gebäude entwickelt, der auch eine Mieterbefragung beinhaltete. Den Wünschen der Mieter nach doppelverglasten Fenstern, einer Wärmedämmung der Fassade und Gasetagenheizungen in den Wohnungen wurde nachgekommen. Zudem wurden leerstehende untere Gebäudeteile neu zugeschnitten und teilweise in zusätzliche Wohnfläche umgenutzt.

Studio E erhielt von der Kommunalverwaltung den Planungsauftrag ohne Ausschreibung, als beide bereits am Neubau des direkt nördlich an den Grenfell Tower angrenzenden Freizeit- und Bildungszentrums zusammenarbeiteten. Darüber hinaus hatte sich die Firma einen guten Ruf erworben und an anspruchsvollen Gebäuden gearbeitet. Studio E besass aber noch keine Erfahrung im Umgang mit Wohnhäusern oder Hochhäusern und hätte nach eigener Einschätzung den Auftrag im Rahmen einer regulären Ausschreibung nicht erhalten. Die Kommunalverwaltung und die KCTMO wünschten, den benachbarten Neubau und die Fassadensanierung des Turms zwar organisatorisch getrennt, aber mit Blick auf Synergien möglichst parallel durchzuführen.

Nach Fertigstellung der Planungen für die Kommunalverwaltung wurde Studio E durch das Generalunternehmen Rydon als Auftragnehmer weiter beschäftigt. Allerdings wurde diese Geschäftsbeziehung erst im Februar 2016 formell besiegelt, als die Arbeiten an der Fassadenverkleidung bereits fortgeschritten waren.

Brandschutz

Die KCTMO beauftragte die Beratungsfirma Exova, den Entwurf für einen Brandschutzplan zu erstellen. Dieser Entwurf ging an die Architekten von Studio E. Weder erhielt Exova danach von der KCTMO den Auftrag, diesen Plan fertigzustellen, noch war sie bei der Planung der Fassade involviert oder wurde vom Generalunternehmen Rydon weiter beschäftigt.

Rydon Ltd. wurde im Jahr 2014 als Generalunternehmer mit der Umsetzung der Massnahmen beauftragt. Die Arbeiten fanden von Februar 2015 bis Juni 2016 statt, die Kosten beliefen sich auf 10 Millionen britische Pfund, was im Juni 2016 etwa 13 Millionen Euro entsprach. Die Fassadenarbeiten führte die Firma Harley Facades zu einem Preis von 2.6 Millionen Pfund (3.38 Millionen Euro im Juni 2016) durch.

Die neue Fassade bestand aus den folgenden Elementen:

  • Die ursprüngliche Betonfassade
  • Eine Wetterschutzmembran zwischen den neuen Fenstern und der ursprünglichen Fassade
  • Neue Fenster und Fensterrahmen
  • Sandwichpaneele zur Ausfachung zwischen bestimmten Fenstern
  • Kleine, aus Sandwichpaneelen geformte Fenstereinsätze, die wie Mauerkästen 
    dem Wrasenabzug (Dunstabzug) dienten
  • Direkt auf die ursprüngliche Fassade geklebte Wärmedämmung
  • Um jedes Fenster unter der Innenverkleidung angebrachte Wärmedämmung
  • Ein Hohlraum zur Hinterlüftung der vorgehängten Fassade
  • Weitere Hohlräume, die aus verschiedenen Gründen entstanden
  • Die vorgehängte Fassade
  • Fixierungen und Tragwerk

Es wurden Fenster aus Hart-PVC eingesetzt und die Fugen mit elastischem EPDM wetterfest gemacht. Die neue Fensterebene lag ausserhalb der bisherigen Betonfassade.

Die Flächen zwischen den Fenstern wurden mit einfachen, mit einem dünnen Aluminiumblech versehenen Polystyrol-Dämmplatten (PS) des Typs Aluglaze der Firma Panel Systems ausgefacht. Sie sind in der europäischen Klasse zum Brandverhalten E eingestuft. Der Vertreter des Herstellers gab bei der Untersuchung an, nicht gewusst zu haben, dass die Platten für ein Hochhaus geliefert wurden. Aufgrund fehlender genauerer Angaben sei das Standardprodukt geliefert worden. Bei einem Hochhaus wäre ein Produkt der strengeren Klasse zum Brandverhalten B erforderlich gewesen.

Für die Wärmedämmung wurden 150 mm dicke, beidseitig mit Aluminiumfolie kaschierte Hartschaumplatten aus Polyisocyanuraten (PIR) des Typs Celotex RS5000 auf die ursprüngliche Betonfassade geklebt. PIR ist thermisch verhältnismässig stabil, eine Zersetzung beginnt oberhalb von 400° C, und es enthält Cyanursäure.

An einem kleinen Bereich der Fassade wurden ungeplant durch Harley Facades aufgrund kurzfristiger Lieferprobleme nicht die Celotex RS5000, sondern Kingspan K15-Platten angebracht, um eine Verzögerung der Montagearbeiten um wenige Tage zu verhindern. Diese Platten bestehen aus Phenolharzschaum (PF), der mit einer perforierten Folie kaschiert war. Sie erwiesen sich in Prüfungen als hochgradig entflammbar, wurden jedoch als geeignet zertifiziert und daher bedenkenlos verbaut.

Unterhalb der Fensterzeilen sah die Planung in jedem Stockwerk horizontale, gebäudeumlaufende Brandriegel vor, ebenso um die Fenster.

Dämmung und Brandriegel wurden mit einer vorgehängten hinterlüfteten (25–50 mm) Fassade aus 3 mm dicken Aluminium-Polyethylen-Verbundplatten vom Typ Reynobond PE55 von Arconic (zuvor Alcoa) mehrfarbig verkleidet.

Der Hersteller beschreibt die Reynobond-Verbundplatten als «aus zwei einbrennlackierten Aluminiumblechen» bestehend, «die beidseitig im Schmelzfixierverfahren auf einen Polyäthylenkern aufgebracht werden.» Polyäthylen hat einen Schmelzpunkt von 130 bis 145 °C. Die günstig herstellbare Platte ist in der Schichtung vergleichbar mit Dibond-Platten und erreicht ebenso die Brandschutzklasse B2 «normal entflammbar». Von der Platte gibt es zwei weitere Versionen mit anderen Kernmaterialien, die nach EN-13501 höhere Brandschutzklassen B-s1, d0 («schwer entflammbar») und A2-s1, d0 («nicht brennbar») erreichen.

Die Aluminium-Polyäthylen-Verbundplatten wurden, je nach Montageort, sowohl flach vernietet als auch als Kassetten auf der Unterkonstruktion befestigt. Kassetten sind Verbundplatten mit zur Seite umgeschlagenen Rändern, die jeder einzelnen Platte eine flache Kastenform geben. Die Befestigung am Tragwerk erfolgt dabei verdeckt an den umgeschlagenen Rändern. Dort sammelte sich allerdings brennend abtropfender Kunststoff, anstatt nach unten abzufliessen.

Warnungen vor Sicherheitsmängeln

Anwohner der Lancaster West Estate organisierten sich 2010 in der Grenfell Action Group und wandten sich seit 2012, als sie in die Planung der Sanierung des Grenfell Tower eingebunden wurden, regelmässig an die gemeinnützige Hausverwaltung, um auf Missstände aufmerksam zu machen. 2013 veröffentlichten sie Teile eines im Vorjahr erstellten Gutachtens, das signifikante Verstösse gegen Brandschutzvorgaben publik machte. So waren Teile der Brandbekämpfungsausrüstung seit drei Jahren nicht gewartet worden. Ihre Bemühungen dokumentierten sie in einem Blog. So schrieben sie im November 2016:

«Es ist ein wahrlich erschreckender Gedanke, aber die Grenfell Action Group ist der entschiedenen Ansicht, dass nur ein katastrophales Ereignis das Unvermögen und die Inkompetenz unseres Vermieters, der KCTMO [Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation], entlarven und den gefährlichen Lebensumständen und der Missachtung der Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften ein Ende setzen wird, die dieser seinen Mietern und Pächtern zumutet. Wir glauben, dass die KCTMO eine bösartige prinzipienlose Mini-Mafia ist, die ihre Aufgabe nicht in der Verantwortung des Tagesgeschäfts in der Leitung grosser sozialer Wohnsiedlungen sieht, und dass ihre niederträchtige Abmachungen mit dem RBKC [Royal Borough of Kensington and Chelsea] Council ein Rezept für ein zukünftiges grosses Desaster ist.»

Stay-put-Regel und baulicher Brandschutz

Die Stay-put-Regel besagt, dass nicht direkt vom Brand betroffene Bewohner in ihren Wohnungen bleiben sollen, bis sie von der Feuerwehr andere Anweisungen erhalten.

Die Brandbekämpfung in Hochhäusern basiert auf der Grundannahme, dass ein normaler Wohnungsbrand von der Feuerwehr im Innenangriff beherrscht werden kann. Die Baugesetzgebung im Vereinigten Königreich legte das Hauptaugenmerk beim baulichen Brandschutz in Wohnhochhäusern auf die Abschottung der Stockwerke und Wohneinheiten untereinander. Ein Brand sollte sich nicht, oder allenfalls erst nach einer längeren Zeitspanne, auf weitere Wohnungen ausbreiten können. Menschenrettung sollte daher nicht im grösseren Umfang erforderlich werden, weil die Bewohner zum Verbleib in ihren einstweilig sicheren Wohnungen aufgefordert werden, so sie nicht von Feuer, Hitze oder Rauch direkt betroffen sind.

Eine Brandausbreitung entlang der ursprünglichen, unbrennbaren Betonfassade des Grenfell Tower wäre allenfalls aufgrund des Coandă-Effekts erwartbar gewesen. Auch die neu aufgeklebten aluminiumkaschierten PIR-Dämmplatten waren für sich genommen schwer entflammbar. Vorgehängte Aluminium-Polyethylen-Verbundplatten, wie sie als äussere Wetterschutzschicht am Grenfell Tower verbaut wurden, sind aber als normal entflammbar eingestuft. Sie bergen in der Gesamtbetrachtung der möglichen Wechselwirkungen aller Fassadenelemente ein erhebliches Gefahrenpotenzial.

Bei einem tödlichen Grossbrand im Londoner Wohnhochhaus Lakanal House im Jahr 2009 sorgten Hochdrucklaminat-Verbundplatten (HPL-Schichtstoff) für die Brandausbreitung über mehrere eigentlich gegeneinander abgeschottete Stockwerke hinweg. Die Lehren daraus hatten sich in der Fachwelt verbreitet, fanden jedoch keinen Niederschlag in der Baugesetzgebung und deren Durchsetzung. Ungeachtet des Risikos wurden über Jahre hinweg weiterhin Wohngebäude aus Kostengründen mit leicht entflammbaren Fassadenverkleidungen neu errichtet oder saniert und genügten dabei allen Vorschriften.

Entsprechendes galt beim Grenfell Tower, für den die Stay-put-Regel als Verhaltensvorgabe bestehen blieb. Im Zuge von Renovierungs- und kleineren Umbauarbeiten wurden als Wohnungseingangstüren feuerhemmende T30-Türen verbaut, die Feuer 30 Minuten lang widerstehen. Nach wie vor gab es keine Sprinkleranlage.

Die Brandschutzingenieurin Dr. Lane schrieb 2018 in ihrem Bericht für die richterliche Untersuchung der Katastrophe, dass die Stay-put-Regel gescheitert sei, als sich das Feuer eine halbe Stunde nach Brandausbruch durch eine Fensteröffnung auf die neue Fassadenverkleidung ausgedehnt habe.

Die strikte Abschottung der Stockwerke untereinander als zentrales Element des vorbeugenden Brandschutzes sei damit ausgehebelt gewesen. Dieser Sachverhalt sei der Feuerwehr nicht bewusst gewesen. Sowohl die Notrufzentrale wie auch die zuerst eintreffenden Einsatzkräfte gingen zu lange von einem Routineeinsatz mit einem wirksamen Brandschutz aus. Den Bewohnern sei daher zu spät geraten worden, das Hochhaus zu verlassen.

Flucht- und Rettungswege

Im Gebäude gab es ein einziges Treppenhaus. Es musste im Brandfall sowohl als Fluchtweg für die Bewohner wie als Rettungs-, Angriffs- und Versorgungsweg für die Feuerwehr dienen. Den Vorschriften im Vereinigten Königreich entsprechend war es nicht als Sicherheitstreppenraum ausgelegt, weil entsprechend der Stay-put-Regel die Nutzung des Treppenraums als Fluchtweg im Brandfall nicht vorgesehen war. Die Londoner Feuerwehr hatte dem Betreiber des Grenfell Tower nach dem tödlichen Grossbrand im Lakanal Houseauferlegt, die Brandsicherheit auch im Treppenhaus zu verbessern.

Der allgemein nutzbare Aufzug besass eine Feuerwehrschaltung, die sich aber nicht aktivieren liess. Es gab kein hausinternes Alarm- oder Lautsprechersystem, mit dem die Feuerwehr die Bewohner hätte informieren oder zum Verlassen des Hauses auffordern können.

Seit der Sanierung war eine Entrauchungsanlage installiert, die auf jeweils einer Etage die Luft aus den Korridoren vor den Wohnungen, ausserhalb des Gebäudekerns mit dem Treppenhaus und den Aufzügen, absaugen konnte. Damit wären bei einem Wohnungsbrand sowohl die übrigen Wohnungen als auch das Treppenhaus möglichst rauchfrei gehalten worden. Diese Anlage war aber nicht für ein Feuer auf mehreren Stockwerken ausgelegt. Sie war überdies acht Tage vor dem Brand als defekt gemeldet worden. Reparaturen und regelmässige Wartung hatten aufgrund ungeklärter Kostenübernahme nicht stattgefunden. Wenn die Entrauchungsanlage am Tag des Brands wie vorgesehen funktioniert hätte, hätte sie bei unsachgemässer Bedienung Rauch aus den brennenden Wohnungen in die Korridore ziehen und so zur weiteren Verrauchung der Fluchtwege beitragen können.

Wiederholt wurde von der Grenfell Action Group darauf hingewiesen, dass Flucht- und Rettungswege nicht freigehalten würden. Als Beispiele gaben sie mehrfach parkende Autos in Feuerwehrzufahrten an und wiesen auch auf Sperrmüll hin, der im Eingangsbereich des Hauses von der Hausverwaltung stillschweigend geduldet wurde. Dies geschah nicht nur unter dem Aspekt der unnötigen Brandlasten, sondern auch mit Verweis darauf, dass das Gebäude nur einen Ein- und Ausgang aufweist.

Grossbrand vom 14. Juni 2017

Am 14. Juni 2017 brach in dem Gebäude ein Feuer aus. Ein defekter Kühlschrank in Wohnung 16 im 4. Stock setzte die Küche in Brand. Um 0:54 Uhr Ortszeit wurde die London Fire Brigade alarmiert; sechs Minuten später trafen erste Feuerwehreinheiten am Grenfell Tower ein. Sie konnten laut BBC-Recherchen den vom Kühlschrank ausgehenden Wohnungsbrand löschen. Das Feuer hatte jedoch bereits durch die Fensteröffnung auf die Fassadenverkleidung übergegriffen und entwickelte sich zum Grossbrand.

Die Fassadenverkleidung brannte oberhalb des Brandherds auf der östlichen Gebäudeseite in der ersten halben Stunde zunächst senkrecht bis zur Dachkante empor. Im Laufe der folgenden drei Stunden breitete sich das Feuer V-förmig horizontal über alle vier Fassaden des Gebäudes aus. Die Fenster waren in die neue Fassade eingeklebt, die Verbindungsstellen hielten dem Feuer nicht stand. Ausserdem standen aufgrund der Sommerhitze viele Fenster und Türen offen. Flammen und Rauch drangen so gleichzeitig an vielen Stellen in die Wohnungen ein. Zur Bekämpfung des Brands waren schliesslich über 200 Feuerwehrleute mit 40 Löschfahrzeugen sowie 100 Sanitäter im Einsatz. Die Feuerwehr konnte 65 Personen aus dem Haus retten.

Im Gebäudeinneren brannte das Feuer an vielen Stellen mehr als 24 Stunden lang. Zerstörte Gasleitungen erschwerten die Löscharbeiten. Am 15. Juni um 1:14 Uhr Ortszeit, also nach etwas mehr als 24 Stunden Dauer, war der Brand laut Feuerwehr unter Kontrolle. Feuerwehr und Polizei begannen daraufhin eine erste Suche nach Vermissten über alle Stockwerke, die wegen möglicher Einsturzgefahr und noch aufflammenden Brandnestern vorübergehend unterbrochen wurde.

Nach vorläufiger Schätzung der Polizei vom 20. Juni starben 79 Menschen; mindestens gleich viele Verletzte wurden in Krankenhäusern behandelt. Eine zunächst befürchtete Einsturzgefahr des Gebäudes wurde von einem Experten an Ort und Stelle ausgeschlossen. Die Feuerwehr schätzte, dass die Bergung der Opfer mehrere Wochen dauern könne. In den Morgenstunden nach dem Brand war die Situation um den Tower herum vollkommen chaotisch und Überlebende auf sich gestellt und auf die Mithilfe ihrer eigenen Gemeinde und von Freiwilligen aus ganz London angewiesen, die aufgrund des Feuers herbeigeeilt waren. Es blieb lange unklar, wer überlebt hatte und wer nicht.

Entwicklung der Opferzahlen

Insgesamt forderte der Brand nach offiziellen Angaben 72 Menschenleben. Da zuvor die Personenanzahl im Gebäude zur Brandzeit nicht bekannt war, stützten sich die Veröffentlichungen der Polizei zur Zahl der Todesopfer auf die Zahl der aufgefundenen Toten und der in den Krankenhäusern verstorbenen Menschen, später auch auf die Zahl der bekannten Vermissten. Zusammen mit anfänglichen Verzögerungen der Sucharbeiten wegen des andauernden Brands und Sicherheitsrisiken im ausgebrannten Gebäude führte dies zunächst zu relativ niedrigen veröffentlichten Opferzahlen. In der Bevölkerung kamen Spekulationen auf, dass wesentlich höhere «wahre» Zahlen absichtlich zurückgehalten würden.

Ein Web-Artikel der BBC News schilderte zusätzliche Probleme dabei, eine genaue Vermissten- beziehungsweise Opferzahl zu nennen: Zwar wurde das gesamte Gebäude schon durchsucht, aber eine Zahl an Opfern ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Dazu sind einige Datenquellen wie die Mieterliste, die Informationen des Casualty Bureau und das Wählerregister zwar relativ robust, jedoch erfassen diese je nach dem keine Kinder, Ausländer, Besucher oder Fälle von illegaler Untervermietung. Ebenso wurden Videoaufzeichnungen und die eingegangenen Feuernotrufe ausgewertet, die überlebenden Bewohner wurden danach gefragt, welche anderen Bewohner sie kannten und wer sich zum Zeitpunkt des Brands im Gebäude aufhielt. Letztlich fragte die Londoner Polizei auch Kindertagesstätten, Sozialarbeiter, Botschaften und sogar Fastfood-Lieferanten nach nützlichen Informationen über die Anzahl und die Identitäten von Bewohnern.

Am 19. Juni erklärte ein Vertreter der Londoner Polizei New Scotland Yard, wegen der Intensität der Flammen sei es sehr wahrscheinlich, dass einige Opfer nie identifiziert werden können.

Folgen des Grossbrands

Schnell wurde Kritik gegenüber den Behörden laut, dass die Warnungen der Grenfell Action Group ignoriert worden seien. Das Unglück hatte sich fünf Tage nach einer Wahl zum britischen Unterhaus ereignet. Premierministerin Theresa May war seit der Wahl grosser Kritik ausgesetzt. Der Abgeordnete John McDonnell von der konkurrierenden Labour Party rief am Tag nach dem Grossbrand zu Massenprotesten gegen die angeschlagene Premierministerin auf; innerhalb von zwei Wochen wollte er in London eine Million Demonstranten mobilisieren. Das Ziel waren Neuwahlen, bei denen sich Labour einen Sieg ausrechnete.

Ein signifikanter Teil der Hilfe und Betreuung in North Kensington nach dem Desaster kam aus der eigenen Gemeinde, was wiederum grosse Kritik an den staatlichen und lokalen Behörden aufkommen liess.

In den nachfolgenden Tagen kam es zu Protesten gegen die Regierung, insbesondere gegen May, da sie erst verspätet Kontakt zu den Opfern gesucht habe, während diese bereits zuvor von Oppositionsführer Jeremy Corbyn, Londons Bürgermeister Sadiq Khan, Prinz William und Königin Elizabeth II. besucht worden waren.

Am Freitag, den 16. Juni, drangen Demonstranten in das Bezirksrathaus von Kensington ein. Polizei und Rettungskräfte verhinderten das Vordringen in die oberen Stockwerke. Danach verlagerten sich die Proteste an den Brandort. Am frühen Abend zogen Demonstranten im Zentrum von London durch Whitehall in Richtung Downing Street und dann weiter zum Broadcasting House in der Oxford Street. Zuvor hatte May am Vormittag Opfer in einem örtlichen Krankenhaus besucht und war am späten Nachmittag mit Opfern und Verwandten in einer Kirche in der Nachbarschaft des ausgebrannten Hochhauses zusammengetroffen.

May sagte beim Besuch finanzielle Hilfen für die Opfer zu. Ferner versicherte sie den Bewohnern vom Grenfell Tower, in der Nähe ihres bisherigen Wohnorts neue Wohnungen zu bekommen. Auch die Bezirksverwaltung von Kensington und Chelsea sagte am Abend, dass obdachlos gewordene Bewohner innerhalb des Stadtteils umgesiedelt würden. Bei Mays Besuch kam es zu Protesten, sodass sie von der Polizei vor wütenden Demonstranten in Sicherheit gebracht wurde.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan brachte den Abriss veralteter Hochhäuser ins Gespräch. Dies könne bei Hochhäusern aus den 1960er und 1970er Jahren aus Sicherheitsgründen nötig werden, schrieb Khan in einem Beitrag für die Sonntagszeitung The Observer. In der Wiederaufbauphase nach dem Krieg seien viele Hochhäuser entstanden, die heutigen Standards nicht mehr entsprächen.

Nach Aussage der britischen Behörde Department for Communities and Local Government entspricht eine Verkleidung aus Aluminium-Polyäthylen-Verbundplatten nicht der Building Regulations Guidance. Dieses Material sollte nicht bei über 18 Meter hohen Gebäuden verwendet werden. Schatzkanzler Philip Hammond erklärte aufgrund dieser Angaben, dass dieses Material im Vereinigten Königreich verboten sei und dass nun untersucht werde, ob im Fall des Grenfell Tower gegen Bauvorschriften verstossen worden sei.

Am 21. Juni 2017 veröffentlichte der britische Musikproduzent Simon Cowell eine Version des von Simon & Garfunkel stammenden Lieds «Bridge over Troubled Water». An der Neuaufnahme, die unter dem Namen «Artists for Grenfell» erschien, waren über 50 Künstler beteiligt.

Auswirkungen auf Gebäude in England

Anderthalb Wochen nach der Grenfell-Brandkatastrophe wurden die Bewohner von fünf anderen Hochhäusern im Norden Londons wegen Brandgefahr evakuiert und in Notunterkünften und Hotels untergebracht. Die Feuerwehr hatte dort erhebliche Sicherheitsmängel festgestellt: unter anderem brennbare Fassaden, Fehler bei der Isolierung von Gasleitungen und das Fehlen von Brandschutztüren. 

In den fünf Hochhäusern der Grosswohnsiedlung Chalcots Estate im Stadtviertel Swiss Cottage in Camden waren rund 800 Haushalte beziehungsweise 4000 Bewohner des Burnham Tower, Bray Tower, Blashford Tower, Taplow Tower und Dorney Tower betroffen. In den folgenden Wochen sollte die Fassadenverkleidung der Häuser entfernt werden. Der Grund seien «dringende Arbeiten zur Brandsicherheit», teilten die Behörden am 23. Juni 2017 mit. Die Entscheidung sei nach einer Inspektion der Feuerwehr getroffen worden. Die Feuerwehrleute sagten demnach, sie könnten die Sicherheit der Bewohner nicht garantieren. Eines der fünf Gebäude, der Blashford Tower, wurde nachträglich jedoch als sicher eingestuft – es war von 2006 bis 2009 von demselben Unternehmen saniert worden wie der Grenfell Tower...

Die Grenfell-Brandkatastrophe entwickelte sich landesweit zu einem Skandal. Nachdem das Kabinett von Theresa May angekündigt hatte, landesweit insgesamt 600 Hochhäuser mit ähnlichen Fassadenkonstruktionen wie beim Grenfell Tower überprüfen zu lassen, wurden bei den ersten untersuchten 75 Häusern ohne Ausnahme Brandschutzmängel festgestellt. 60 Hochhäuser in 25 Gemeinden wurden nach Prüfungen der Fassadenverkleidung als brandgefährdet eingestuft; betroffen waren unter anderem Häuser in den Städten Manchester, Portsmouth und Plymouth.

Die Nachrüstung der Londoner Hochhäuser mit besserem Brandschutz und Sprinkleranlagen soll mehr als 400 Millionen Pfund kosten. Alle Sanierungsbestrebungen beziehen sich auf aluminiumkaschierte Verbundplatten, die zahlreichen Fassadenverkleidungen mit HPL-Platten oder sonstigen brennbaren Materialien sind davon unberührt.

Die Verwendung brennbarer Bauteile bei Neubauten und Fassadenarbeiten an Wohngebäuden mit einer Höhe von über 18 Metern wurde Ende 2018 gesetzlich verboten.

Auswirkungen in anderen Ländern

Im Sommer 2017 wurde im deutschen Wuppertal ein elfstöckiges Wohnhaus im Wohnquartier Hilgershöhe im Stadtteil Barmen von Feuerwehr, Polizei und Ordnungsamt evakuiert und der Zutritt ins Gebäude auch tagsüber verboten. Nach Beseitigung brennbarer Fassadenelemente im Bereich der Fluchtwege wurde das Haus rund einen Monat später wieder freigegeben.

Feuerwehr und Verwaltung der Stadt Dortmund (Deutschland) stellten bei einer Begehung schwere Brandschutzmängel an einem Wohnkomplex im Stadtteil Dorstfeld fest, die aber nicht mit der Fassade in Zusammenhang standen. Das Gebäude mit seinen mehr als 750 Bewohnern und über 400 Wohneinheiten wurde im Herbst 2017 geräumt und blieb bis ins Jahr 2021 unbewohnbar.

In Frankreich verbietet neuerdings ein Gesetz brennbare Fassadenbestandteile bei Gebäuden, die mehr als 28 Meter hoch sind. Vorher war das nur für Gebäude von 50 Meter oder höher der Fall. Auch in der Schweiz wurden die Schutzziele neu formuliert. Einen Überblick über die aktuelle Rechtslage und die Erreichung der Schutzziele finden Sie hier.

Grenfell Tower Fire Morning

Der in Brand stehende Grenfell Tower.

Umgang mit dem Geschehen

In den Wochen nach dem Unglück entwickelte sich die Tradition eines monatlichen Schweigemarschs am Abend des 14. eines jeden Monats. Sechs Monate nach dem Brand erklärten viele in der Gemeinde, immer noch auf sich allein gestellt zu sein. Die Ruine wurde vor dem ersten Jahrestag des Grossbrands auf voller Höhe in ein Gerüst gehüllt, das zwei Lagen wetterfeste Planen trägt. Damit ist sie den Blicken entzogen und etwaige herabfallende Teile werden aufgefangen. Die äussere Hülle wird jährlich ersetzt.

Zum ersten Jahrestag wurde mit mehreren Gedenkveranstaltungen an die Opfer erinnert. Kurz davor gab es offene Anklagen aus der Gemeinde bezüglich angeblicher Falschdarstellungen in den Medien. Grenfell United, eine Interessengruppe, die sich aus den Familien der Opfer und Überlebenden zusammensetzt, projizierte zum zweiten Jahrestag Schriftzüge auf Gebäude in Salford, Newcastle und London, die auf Missstände beim Brandschutz hinweisen. In Salford projizierte man die Aufschrift «2 Jahre nach Grenfell sind 246 Wohnungen in diesem Gebäude immer noch mit gefährlichen Dämmplatten verkleidet.»

Auf Initiative der Premierministerin wurde die Grenfell Tower Memorial Commission eingerichtet, besetzt mit Vertretern der Anwohner, Hinterbliebenen und Überlebenden. Sie soll über die Weiternutzung des Geländes und eine geplante Gedenkstätte entscheiden.

Geplanter Abriss

Das Grundstück, auf dem der Grenfell Tower steht, ist im Sommer 2019 in das Eigentum der Regierung des Vereinigten Königreichs übergegangen. Die Ruine wird seither durch das Ministerium für Wohnen und Regionalverwaltung betreut. Der Stadtbezirk Kensington und Chelsea hat keinen Einfluss mehr auf die weitere Nutzung. 2021 gab die englische Regierung bekannt, dass das Gebäude vom Jahr 2022 an rückgebaut werden solle. Dagegen gab es Bedenken, unter anderem wegen der Gefahr der Asbestverseuchung sowie um weitere Untersuchungen zum Brand zu ermöglichen; ein Zeitpunkt zur Aufnahme der Arbeiten wurde bisher nicht bekanntgegeben. Die Regierung unterrichtet von Zeit zu Zeit zum Stand der Dinge.

Aufarbeitung und Konsequenzen

Ausgangspunkt war nach offiziellen Feststellungen eine im vierten Obergeschoss aus ungeklärten Gründen in Brand geratene Kühl-Gefrierkombination (Kühlschrank) des von Indesit zwischen März 2006 und Juli 2009 produzierten Typs Hotpoint FF175BP. Die Marke Hotpoint wird auch im deutschsprachigen Raum vertrieben, die Rechte für Europa liegen bei der Whirlpool Corporation. Dieser Brandherd kann als gesicherter Ausgangspunkt gelten, da er von den zuerst eintreffenden Feuerwehreinheiten lokal beherrscht wurde. Die Flammen griffen durch die Fensteröffnung auf die Gebäudefassade über.

In der öffentlichen Diskussion über die Ursache der raschen Ausbreitung des Brands über so viele Stockwerke hinweg wird die Fassadenverkleidung thematisiert. In verschiedenen Medien wird aufgrund der Bildberichte der brennenden Fassade vermutet, dass die vorgehängte hinterlüftete Fassade aus Aluminium-Verbundplatten den Brand der dahinterliegenden aluminiumkaschierten Dämmplatten durch den Einschluss der Wärmeenergie förderte und durch einen Kamineffekt zur schnellen Ausbreitung des Feuers beitrug. Experten, unter anderem der Leiter der Frankfurter Feuerwehr, geben an, dass die brennbare Fassade ein wesentlicher Grund der Katastrophe war. Es wird ausserdem vermutet, dass bei dem Brand giftige Gase wie Kohlenmonoxid und Blausäure entstanden, die zu der verhältnismässig hohen Zahl der Todesopfer beitrugen.

Der Vorsitzende des zuständigen Gemeinderats und der Chef der kommunalen Hausverwaltung KCTMO traten Ende Juni 2017 zurück. Britische Medien hatten zuvor Dokumente veröffentlicht, denen zufolge zunächst weniger leicht entflammbare Fassadenteile für die Sanierung des Hochhauses vorgesehen waren. Um Geld zu sparen, habe sich die Verwaltung aber für eine billigere Variante entschieden. Die Kommunalverwaltung entzog der KCTMO im September 2017 die Kontrolle über die Lancaster-West-Siedlung sowie über alle anderen Sozialwohnungsobjekte im Stadtbezirk.

Strafrechtliche Aufarbeitung

Die erste Phase der strafrechtlichen Aufarbeitung liegt bei Scotland Yard, wo eine 250-köpfige Sonderkommission gebildet wurde. Im besonderen Fokus stehen die Planung und Realisierung der dem Brand vorausgegangenen Sanierungsmassnahmen, wobei auch Ermittlungen in Richtung fahrlässiger Tötung nicht ausgeschlossen werden.

Grenfell Tower Inquiry: Unter Vorsitz des pensionierten Richters Martin Moore-Bick wurden in umfangreichen Befragungen die Hintergründe des Geschehens untersucht. Ende Oktober 2019 erschien der Bericht zum ersten Teil der Grenfell-Untersuchung. Der Vorsitzende kritisiert darin die zu späte Evakuierung durch die Londoner Feuerwehr.

Der zweite Teil der Untersuchung begann im Januar 2020 und sollte 18 Monate andauern. Angesichts der COVID-19-Pandemie im Vereinigten Königreich wurde die Untersuchung im März unterbrochen und im Juli als Videokonferenz fortgeführt. Der zweite Teil konzentriert sich auf die Vorgänge, die zur Auswahl und Verwendung der brennbaren Fassadenelemente führten.

London Fire Brigade: Die Behördenleiterin der Londoner Feuerwehr, Dany Cotton, ging nach Veröffentlichung des ersten Berichts zur Grenfell-Untersuchung und wiederholter Kritik in den Ruhestand. Nachfolger im Amt wurde Anfang 2020 ihr bisheriger Stellvertreter Andy Roe, der als Einsatzleiter am Grenfell Tower um 2:47 Uhr den Befehl zum Widerruf der Stay-put-Regel gegeben hatte.

Das behördeninterne Grenfell Tower Investigation and Review Team zur Organisationsentwicklung veröffentlichte im Oktober 2019 einen Sachstandsbericht:

  • Einsatzleiter und Führungskräfte werden geschult und ihr Wissen zertifiziert, die Leitstelle wurde umorganisiert und die Besatzungen im Umgang mit eingeschlossenen Anrufenden besser ausgebildet. Die interne Wissensverfügbarkeit wird verbessert und eine Brandschau von besonders gefährdeten Objekten durchgeführt.

  • Es wurden Fluchthauben für die Menschenrettung in verqualmten Räumen beschafft, Drohnen zur Lageerkundung und Detektoren, um die Stabilität von Gebäuden zu überwachen.

  • Der erste Abmarsch zu jedem gemeldeten Brand in einem Hochhaus wurde bereits 2017 auf fünf Löschfahrzeuge und ein Hubrettungsfahrzeug erhöht. Bei einem bestätigten Brand sowie der Meldung eines Fassadenbrands werden zehn Löschfahrzeuge und ein Hubrettungsfahrzeug entsandt.

Im Rahmen der turnusgemässen Flottenerneuerung wurden in den Jahren 2020 und 2021 zwölf Drehleiterfahrzeuge mit einer Arbeitshöhe von 32 Metern sowie erstmals drei mit einer Höhe von 64 Metern in Dienst gestellt. Zwei der 64-Meter-Fahrzeuge wurden für 2,5 Millionen Pfund von der gemeinnützigen Masonic Charitable Foundation der Londoner Freimaurer-Grossloge Metropolitan Grand Lodge gestiftet.

Versicherungen: Der Brand führte auch zu einer Neubewertung des Risikos durch die Versicherer. So stiegen die Prämien in einigen Fällen um bis zu 600 Prozent. Nach Angaben der Association of British Insurers (ABI) vertrauen die Versicherer auch den im Labor gewonnenen Daten zu den Klassen zum Brandverhalten von Baumaterialien nicht mehr.

Ähnliche Vorfälle:

  • Grossbrand im Lakanal House in Camberwell mit sechs Toten (2009): Im Laufe der Untersuchung wurde das 14-geschossige Gebäude als eines identifiziert, bei dem sich ein Wohnungsbrand leicht auf das gesamte Gebäude ausbreiten konnte. Die Fassadenverkleidung war binnen fünf Minuten durchgebrannt, die dafür verantwortlich zu machende vorherige mangelhafte Sanierung bei Kontrollen nicht aufgefallen. Unabhängig davon hatte im Jahr 1999 die Stadtbezirksverwaltung Southwarks zunächst den Abriss beschlossen, die Entscheidung war jedoch wieder rückgängig gemacht worden.

Brandunglücke weltweit, bei denen vorgehängte Fassaden mit Aluminium-Polyäthylen-Verbundplatten eine Rolle spielten:

  • Millennium Business Center, Bukarest (2009)
  • Beijing Television Cultural Center (2009)
  • Royal Wanxin International Tower Türme A und B, Shenyang (2011)
  • Tamweel Tower, Dubai, Vereinigte Arabische Emirate (2012)
  • Lacrosse Tower, Melbourne, Australien (2014)
  • Marina Torch, Dubai (2015 und 2017)
  • The Address Downtown Dubai (2015/2016)
  • Abbco Tower, Schardscha, Vereinigte Arabische Emirate (2020)
  • Torre dei Moro, Mailand, Italien (2021)

Strafrechtliche Konsequenzen? Das Karussell des Abwälzens

Die Untersuchung zog weite und enge Kreise um das Unglück und holte Figuren vor den Vorhang wie ein Theaterstück. Bei seinem Abschluss-Statement im November 2022 fand Kronanwalt Richard Millett ausgesprochen klare Worte: Jeder einzelne Todesfall sei vermeidbar gewesen. Ein «Karussell des Schuldabwälzens» habe er vorgefunden, was er mit einem Diagramm aller Beteiligten illustrierte, mit vielen Pfeilen und Linien zwischen ihnen und ohne Zentrum.

Die Protagonistinnen und Protagonisten: der Hersteller der Fassadenpaneele Arconic, der wusste, dass das Material bei Hochhäusern gefährlich war, sich aber als «völlig schuldlos» bezeichnete und über eine Million Pfund pro Monat für Anwälte ausgab. Der Hersteller der brennbaren Isolierschicht, Celotex, der die Schuld zu Arconic zurückschob. Die Baufirma, die sich überhaupt keiner Schuld für irgendetwas bewusst war. Die Brandforscherin, deren Institut schon im Jahr 2001 baugleiche Paneele getestet hatte, die innerhalb von fünf Minuten in hohen Flammen standen. Danach, sagte sie, habe sie erwartet, dass diese Paneele nie an Hochhäusern verwendet würden. Es habe aber auch niemand die Warnung an die Industrie weitergereicht.

Fehlende Kontrollen

Dann der Beamte, der klarzustellen vergass, ob die behördlichen Brandschutzregeln das brennbare Füllmaterial verboten oder nicht und auf eine Mail mit Warnungen vor einer möglichen Katastrophe nicht reagierte. Seine Vorgesetzte, die bedauert, dass die geplante Überarbeitung der Regeln nach einem früheren tödlichen Hochhausbrand mehrfach verschoben wurde, und diagnostizierte, die Regierung habe nicht anerkannt, dass es so etwas wie systemische Verantwortung gebe.

Lord Eric Pickles, Wohnbauminister von 2010 bis 2015, erinnerte den Kronanwalt gleich zu Beginn seiner Vernehmung, dass er noch Termine habe und man ihn nicht zu lange aufhalten solle, vertat sich bei der Anzahl der Toten und behauptete, seine Tatenlosigkeit habe mit der Politik der Deregulierung nichts zu tun gehabt. Das habe es sehr wohl, so der Kronanwalt, es habe nämlich «einen Enthusiasmus der Regierung für Deregulierung» gegeben, «die zu einer völligen Abwesenheit von Kontrollen geführt» habe.

Die Diagnose des Kronanwalts trifft ins Schwarze. Deregulierung ist das Mantra der britischen Konservativen. Schon Premier David Cameron hatte in seiner Amtszeit angekündigt, «verrückte» Regulierungen wie manche Umweltschutzbestimmungen abzuschaffen und die damals rund 100 Normen für Bau-Standards auf zehn zu reduzieren.

Quellen: Wikipedia / Maik Novotny, Der Standard (A)

Grenfell Tower Fire (Wider View)